Ein Gastbeitrag von Philipp Bode
Dozenten sollte es offen gestellt werden, ob sie ihre Seminare und Vorlesungen mit einer Anwesenheitspflicht belegen, etwa im Tausch gegen eine Studienleistung. Doch nur dann, wenn die Qualität ihrer Lehre dies rechtfertigt.
1. Der Beginn der aktuellen Debatte
Am 29. Januar 2015 erschien auf ZEIT ONLINE ein Artikel mit dem Titel Studenten, bleibt zu Hause! über den Versuch die Anwesenheitspflicht an Universitäten in Nordrhein-Westfalen abzuschaffen. Die Autorin, Anne-Kathrin Gerstlauer, fordert darin die flächendeckende Abschaffung der Abwesenheitspflicht an deutschen Universitäten. Die faktische Weigerung vieler Dozierender die Anwesenheitspflicht fallen zu lassen, so Gerstlauer, bestehe in der „Angst vor leeren Stuhlreihen“.
Der Argumentationsgang des Artikels ist – um es vorsichtig auszudrücken – von einem bemerkenswerten Optimismus geprägt. „Einige Studenten mögen sich überschätzen“, ist dort zu lesen, „andere verzetteln. Das werden sie am Ende des Semesters merken, das dank Bologna fast ausnahmslos jeden Kurs mit einer Prüfung abschließt. Der ein oder andere wird hinfallen, aber er wird wieder aufstehen, den Laptop hochfahren und weitermachen. Die Uni soll nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch dabei helfen, erwachsen zu werden, Fehler zu machen, daraus zu lernen, auch mal Risiken einzugehen.“
Dass Universitäten eine Menge Aufgaben erfüllen, aber sicher keine davon in der Hilfe zum Erwachsenwerden bestehen kann, soll und darf, hat Frau Gerstlauer bereits in den Reaktionsartikeln auf ZEIT ONLINE zu lesen bekommen, in denen dieses nicht ganz ungefährliche Missverständnis bereits thematisiert wurde. Viel riskanter sind die verallgemeinerten Vorurteile, die den Artikel von Frau Gerstlauer prägen, etwa diese: „Ein 18-jähriger Student mag nicht immer wissen, was für ihn wichtig ist. Das können aber auch nicht unbedingt Professoren, die jahrelang nicht mehr in der Praxis gearbeitet haben, die sich an veraltete Lehrpläne halten müssen und an ein Modulhandbuch, das für alle gleich ist, aber keinen Spielraum für die Bedürfnisse des Einzelnen lässt.“
Ich lehre seit nunmehr fünft Jahren sowohl Neuere Deutsche Literaturwissenschaft als auch Philosophie an der Leibniz Universität Hannover (und zwischenzeitlich Medienethik am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover). Seither habe ich 31 Lehrveranstaltungen durchgeführt (Stand: März 2015) und gestatte mir daher eine Meinung in dieser Debatte. So werde ich im Folgenden über die Fächer sprechen, die ich unterrichte oder an deren Ausbildung ich beteiligt bin, das sind in aller Regel Deutsch, Philosophie und Werte und Normen. Ich werde im Folgenden dafür argumentieren, dass eine allgemeine Anwesenheitspflicht tatsächlich nicht Not tut, aber kein Dozierender daran gehindert werden darf diese seinen Studierenden aufzuerlegen.
Es ist also eine sehr subjektive Ansicht, die ich hier vertrete und versuche insbesondere von den Verallgemeinerungen, die ich bei Frau Gerstlauer lese, Abstand zu nehmen. Schließen werde ich meinen Kommentar mit einem praktischen Vorschlag, der zum einen eine zentrale Schwäche der Bologna-Uni aufgreift (die sog. ‚Studienleistung‘) und zum anderen eine Anwesenheitspflicht neben sehr offensichtlichen Gründen auch pragmatisch legitimieren kann. Hinzugefügt sei, dass meine Argumente von (a) Lehrveranstaltungen ausgehen, die nicht prinzipiell verpflichtend sind und (b) primär von Seminaren und nicht von Vorlesungen.
Was also sind „persönliche Bedürfnisse“, die Frau Gerstlauer im Sinn hat? Glaubt tatsächlich irgendjemand ernsthaft, dass ein (zu Recht) beliebtes Fach wie die Germanistik mit vielen hundert Studierenden jedes Semester an einer großen Universität wie jener hier in Hannover auch nur ansatzweise die Möglichkeit hätte „persönliche Bedürfnisse“ im Lehrplan widerzuspiegeln? Das ist nicht nur absurd aus Gründen, die sicher schade sind (mehr Geld wäre zum Beispiel schön), es wäre zudem auch ineffektiv – denn auch eine Universität muss einen Standard vorgeben und einhalten, und Standards sind nun einmal allgemeingültig, damit es vergleichende Bewertungskriterien geben kann. Nur jemand, der dem hochmodernen ‚Ich-Trend‘ verfallen ist, kann dies ernsthaft anzweifeln.
Viel treffender ist indes eine andere Diagnose von Frau Gerstlauer: „Wer hingegen glaubt und befürchtet, dass er künftig vor gänzlich leeren Stuhlreihen lehren wird, der sollte sich fragen: Was ist falsch an meiner Vorlesung?“ Das trifft den Nagel auf den Kopf, oder zumindest einen Nagel. Die universitäre Lehre muss in der Tat ein Qualitätssignal setzen, um so etwas wie eine Anwesenheitspflicht begründen zu können.
Doch kaum hat Frau Gerstlauer diesen wichtigen Punkt gemacht, lässt sie ihre Argumentation im Stich. Sie greift die richtige Auffassung aus den Geisteswissenschaften auf, dass eben diese von Debatten und Diskursen leben. Sie gibt dieser Auffassung sogar Recht, nur um dann ihr eigenes Ziel zu torpedieren: „Aber zu oft besteht Diskurs aus dem einen Satz am Ende des Referats: Noch Fragen? Und wollen Professoren wirklich Studenten in ihren Stuhlreihen, die nur da sind, weil sie müssen? Und die Debatten höchstens mit der besten Freundin via WhatsApp führen und damit den Rest des Kurses stören? Professoren schützen sich und alle motivierten Studenten, wenn sie all die, die gar nicht debattieren möchten, auch nicht dazu zwingen.“
Niemand zwingt tatsächlich Studierende in seine Kurse – es sei denn, diese sind verpflichtend, doch dazu später mehr. Das Problem mit WhatsApp ist übrigens leicht zu beheben – in meinen Seminaren etwa herrscht ein Zwang zum Analogen, will sagen: keine Handys, keine Tablets oder Laptops auf den Tischen! Man will gar nicht glauben, wie dankbar viele Studierende über eine solche Regelung sind.
Folgen wir Frau Gerstlauer zunächst ins Finale: „Deshalb muss es ein Recht auf leere Stuhlreihen geben. Ein Recht darauf, Prioritäten zu setzen, selber zu entscheiden, wann und wo und bei wem man lernen möchte. Ein Recht, nicht zu Professoren zu gehen, die nur von ihren Folien ablesen. Ein Recht, diese Zeit zu nutzen, um sich in Kurse zu setzen, die nicht im Verlaufsplan stehen oder mal ein Buch zu lesen, das nicht zur Pflichtlektüre gehört. Und schlussendlich sogar das Recht, eigenverantwortlich zu entscheiden, einfach mal faul zu sein.“
1.1 Die erste Reaktion: kein Vorturnen
Am 5. Februar 2015 antworteten Danae Ankel und Stephan Liedtke auf ZEIT ONLINE auf den Artikel von Frau Gerstlauer mit dem Titel: Wir Dozenten sind nicht eure Vorturner! und zogen ihre Kritik auf drei wesentliche Punkte zusammen: (1) Die Notwendigkeit der Planbarkeit von Seminaren, (2) die fehlgeleitete Annahme, eine Universität habe beim Erwachsenwerden zu helfen, und schließlich (3) die kritische Reflexion einer studentischen ‚Konsumhaltung‘. Punkt (2) hatte ich bereits erwähnt, Punkt (3) gehört in meinen Augen eigentlich in einen anderen Kontext, ist zumindest für meine Argumentation weniger relevant.
Punkt (1) liegt auf der Hand und offenbart erneut die kontraproduktive Verallgemeinerung von Frau Gerstlauer. Ja, es mag unmotivierte Professoren und veraltete Lehrpläne geben, aber es gibt eben auch in großer Zahl engagiertes Lehrpersonal, ob Professoren oder Mittelbau, das diesem mit Initiative und modernen Seminarplänen entgegentritt – zumindest an den Instituten, an denen ich arbeite. Auch ich statte meine Seminare mit einem thematischen Bogen aus. Und auch ich muss mich darauf verlassen können, dass das Wissen aus Sitzung 3 in Sitzung 4 vorhanden ist usw. Dieses Argument ist so offensichtlich, dass es kaum der Erläuterung wert ist. Wer den Standpunkt vertritt, es läge doch ausschließlich in den Händen der Studierenden, welche Sitzungen besucht werden, dem sei zweierlei gesagt: (1) Das zweifelt auch kaum jemand an, und (2) dann wird allerdings die Forderung nach qualitativ hochwertiger Lehre der Lächerlichkeit preisgegeben.
Erwähnenswert ist aber hier schon der Hinweis auf meinen Vorschlag: Natürlich ist einem Studierenden gewährt Seminare sausen zu lassen, die offenbar keinen Effekt haben und stattdessen ein gutes Buch zu lesen, gern auch eines, das nicht auf dem Seminarplan steht. Das ist aber nun einmal keine Leistung im Sinne der dem zu studierenden Fach zugrunde liegenden Prüfungsordnung. Ganz einfach. Folglich müssen dafür auch keine Leistungen anerkannt werden. Auch ganz einfach. Jeder Studierende indes, der weder eine Studien- noch eine Prüfungsleistung oder Credit Points benötigt, kann in meinen Seminaren kommen und gehen, wie es ihm beliebt.
1.2 Die zweite Reaktion: digitales Lernen
Aus diesem Grund gehe ich direkt zum dritten und vorerst letzten Teil der Debatte über. Am 11. März 2015 nun haben Simone van Koll und Christian Rietz Stellung bezogen (Lasst uns den Studenten via Facebook helfen!), diesmal mit einem ganz anderen Schwerpunkt. Es geht ihnen um die Abwehr des Vorwurfs, das Fernbleiben aus Seminaren sei mit Faulheit gleichzusetzen und verweisen darauf, dass fruchtbare Debatten auch außerhalb des Seminarraums stattfinden, etwa bei Facebook: „Studierende legen für viele Veranstaltungen direkt Facebook-Gruppen an. Diese sind bemerkenswert gut organisiert: So gibt es beispielsweise in diesen Gruppen Studierende, die täglich einmal in der universitätsinternen E-Learning-Umgebung nachschauen, ob neue Dokumente eingestellt worden sind. Diese laden sie dann direkt in die verbundene Cloud und informieren ihre Kommilitonen.“
Hier, so van Koll und Rietz, habe die Unterstützung stattzufinden; diesen neuen Lernformen hätten die Universitäten sich anzupassen: „Die studentischen Lernprozesse verändern und verlagern sich grundlegend. Dazu gehört eben auch, dass sich Universitäten digitalen Transformationsprozessen öffnen und innovative Lehr-Lern-Angebote in die Lehre integrieren. Das betrifft sowohl Entwicklungen, wie sie aktuell auf Facebook zu beobachten sind, aber auch andere Innovationen in der Lehre.“
Und an dieser Stelle, nach erfolgter Wiedergabe der aktuellen Debatte, möchte ich einsetzen und insbesondere den zuletzt genannten Beitrag unter die Lupe nehmen.
2. Reflexion der Debatte
„Die Studierenden“, so heißt es bei van Koll und Rietz, „setzen sich sehr wohl mit den Lerninhalten auseinander, tun das aber möglicherweise zunehmend auf eine andere Art und Weise und an einem anderen Ort.“ Dies läuft in einem bedenklichen Fazit zusammen: „Wir sollten die Studierenden bestmöglich unterstützen. Ob das im Hörsaal oder in sozialen Netzwerken geschieht, ist dann möglicherweise von untergeordnetem Interesse.“ Nun, dies ist keineswegs von untergeordnetem Interesse – was sich zumindest wiederum mit Blick auf die von mir exemplarisch gewählten (weil von mir unterrichteten) Fächer ergibt.
2.1 Lerninhalte besprechen
Dieser andere „Ort“, den van Koll und Rietz primär meinen, ist ein digitaler Ort, an dem sich vorzugsweise schriftlich geäußert wird. Nun ist gegen Schreibkompetenzen wahrlich wenig einzuwenden, doch erscheint es mir wenig ratsam einen geisteswissenschaftlichen Lernprozess um die sprechsprachliche Komponente zu beschneiden, und auf Facebook, Stud.IP oder anderen digitalen Lernsystemen wird zwar viel geschrieben, aber nicht gesprochen. Ein Problem inklusive seiner argumentativ möglichen Lösung sprechend zu äußern erscheint mir insbesondere mit Blick auf die Lehramtstudierenden, die diese Fähigkeit eines Tages vor einer Klasse unter Beweis zu stellen haben, eine unabdingbare Grundvoraussetzung zur Ausübung ihres Berufs zu sein. Dass Studierende Lerninhalte außerhalb der Lehrveranstaltung weiterdiskutieren, auf welche Weise auch immer, ist wünschenswert und gewinnbringend. Wünschenswerter und gewinnbringender wäre es indes, es würde schriftlich und gesprochen passieren (was immer hier mit ‚sprechen‘ gemeint sein mag).
Und warum? Sicher nicht, weil wir Lehrenden grundsätzlich keine Profis im Bereich Social Media sind, wie van Koll und Rietz uns Glauben machen wollen, sondern unter anderem deswegen, weil es sich seit langer Zeit bewährt hat. Aufmerksame Ethikstudierende werden jetzt einen Sein-Sollen-Fehlschluss am Horizont heraufziehen drohen, daher sei die Aussage konkretisiert: Geisteswissenschaftliche Lerninhalte in der Lehr- und Lernmethodik mehr oder minder vollständig zu digitalisieren erfordert die Bereitschaft der signifikanten Verknappung der Ausdrucksmittel, und die Vergangenheit zeigt uns, dass schriftliches und sprechendes Lehren und Lernen eine sehr erfolgreiche Sache sein kann. Der weitgehende Verzicht auf das Seminar als sprechsprachlichen Ort des Lehrens und Lernens ist in meinen Augen – um Humes Diktum auszuweichen – nicht moralisch falsch, es wäre schlichtweg dumm.
2.2 Die Idee der Diskussion
Digitale Orte der Diskussion sind durchaus sinnvoll. Van Koll und Rietz exemplifizieren dies an direkt für spezielle Veranstaltungen eingerichtete Facebook-Gruppen, in welchen die Studierenden dem Austausch über Lerninhalte aktiv nachgehen. Diese vertiefen mitunter die Debatte und stellen umfangreiche Möglichkeiten des Austauschs von potentiellem Lernmaterial zur Verfügung. „Überraschend“, so van Koll und Rietz, sei „die Vielfalt der ergänzenden Materialien, Erklärungen und Videos, die innerhalb der Gruppen von verschiedenen Studierenden bereitgestellt wird.“
Doch schon hier tut sich eine wichtige Frage auf: Wer beurteilt den Wert und die Sinnhaftigkeit dieser Lernmaterialien? Damit verbunden ist das eigentliche Problem, auf das ich hinaus möchte. Die Idee eines Seminars ist die gemeinsame diskursive Annährung an ein Problem und dessen Lösung (oder Teillösung). Doch jede auf ein Lernziel ausgerichtete Diskussion benötigt einen Diskussionsleiter, der sich vor den anderen Diskussionsteilnehmenden durch einen Wissensvorsprung auszeichnet. Ohne eine solche Instanz kann die diskutierende Gruppe nur selten zuverlässig wissen, wann der erzielte Wissenserwerb eigentlich eingetreten ist und wann der Schritt hin auf dem Weg zum Verständnis des Problems oder dessen Lösung getan wurde. Genau für diese Rolle ist ein Lehrender schließlich vorgesehen.
Wenn ich meine Studierenden mit J. M. E. McTaggarts Aufsatz Die Irrealität der Zeit oder Gottfried Benns Gedicht Das späte Ich nach Hause schicke und sage: „Klärt das über Facebook“, dann mag womöglich das ein oder andere spannende Ergebnis dabei herauskommen, doch zu Recht werde ich mir anhören dürfen: „Es ist Ihre Aufgabe uns hier anzuleiten!“ Korrekt: Es ist meine Aufgabe die Studierenden beim Verständnis von Texten, Gedanken und Argumenten anzuleiten. Dafür werde ich bezahlt und dafür bezahlen die Studierenden. Wobei Geld eine in diesem Kontext zunächst unbrauchbare Währung darstellt und für mein Argument auch kaum von Bedeutung ist.
Die Ablösung vom gängigen Prinzip einer Instanz, die den Lösungsweg – mehr oder weniger verlässlich – vorzugeben weiß, wäre auch eine Ablösung von der eigentlichen Idee der Lehrenden. Ein Lehrender ist eine Art (An)Leiter des Gedankens der Lernenden. Gedankenaustausch ist etwas Reziprokes und nirgends – das stand wohl auch Humboldt vor Augen – lässt sich Reziprozität von Lehren und Lernen effektiver erreichen als in einer Seminarsituation. Dabei kommt es nicht einmal notwendig auf die Geschwindigkeit an: Manche Lehrende drücken sich langsamer und umständlicher aus als andere (auf Studierende trifft dies natürlich auch zu). Die Effektivität wird durch Unmittelbarkeit erreicht, was kein Abstraktum meint, sondern eine ganz pragmatische Erfahrung, die jeder selbst machen kann, der sich in einen direkten Gedankenaustausch über Philosophie oder Literatur begibt.
Nun wäre der Einwand denkbar, dass der Lehrende sich ja problemlos in den digitalen Foren beteiligen und dort die Diskussionsleitung übernehmen könne – meinetwegen auch in den vertraglich vorgesehenen Arbeitszeiten. Doch mit diesem Vorschlag ist mit Blick auf die eben getätigten Ausführungen wenig gewonnen.
Es gibt einen Weg alle meine bisher vorgetragenen Argumente in diesem Abschnitt zu umgehen, er ist sehr alltagsnah und klingt den Worten von Frau Gerstlauer wieder ähnlich: Angenommen ich sei ein Studierender und sähe die Argumente für eine persönliche Lehre (also mit Anwesenheit im Seminar) allesamt ein. Was soll ich dann tun, wenn ich an einen Dozenten gerate, der zwar ein heller Kopf sein mag, seine Gedanken aber nicht verbalisiert bekommt? Und schlimmer noch: Was soll ich tun, wenn der Rest des (vielleicht nur kleinen) Kurses entweder nicht das Interesse oder nicht die Fähigkeit besitzt, diese Schwäche durch eigene Leistung auszugleichen? Handelt es sich dann nicht um eine gigantische Form der Zeitverschwendung? Und wäre das Lesen und Lernen mit Originaltexten, Skripten und entsprechender Sekundärliteratur dann nicht wesentlich effektiver gewesen, als jede Woche in die Uni zu rennen?
Die Antwort: Ja, so ist es! Frau Gerstlauer hat völlig Recht: Es gibt ein Recht auf leere Stuhlreihen, ein Recht darauf, Prioritäten zu setzen, selber zu entscheiden, wann und wo und bei wem man lernen möchte, ein Recht, nicht zu Professoren zu gehen, die nur von ihren Folien ablesen, ein Recht, diese Zeit zu nutzen, um sich in Kurse zu setzen, die nicht im Verlaufsplan stehen oder mal ein Buch zu lesen, das nicht zur Pflichtlektüre gehört. Das alles gibt es und dieses Recht sollte unbedingt in Anspruch genommen werden. Kein Recht allerdings hat man dann auf den Nachweis einer Leistung, weil offensichtlich keine Leistung erbracht wurde.
3. Vorschlag
Mein Plädoyer fordert nicht eine allgemeine Anwesenheitspflicht ein, es will lediglich dafür argumentieren, dass es sinnvoll sein kann, Seminare mit einer Anwesenheitspflicht zu versehen. Sie setzt allerdings voraus – und nun kommen wir zur Bringschuld des Lehrenden –, dass auch die Lehrperson etwas leistet, und zwar genau jene Leistung, die ein Seminar überhaupt erst effektiv werden lässt. Der Lehrende muss die Fähigkeiten, die er von seinen Studierenden verlangt, selbst besitzen. Und die Studierenden müssen in die Lage versetzt werden – ob offen oder durch Evaluationen – diese Fähigkeiten ihres Dozenten zu loben oder zu tadeln. Ist diese Voraussetzung erfüllt, ist ein Seminar in meinen Augen effektiver als ein Lernen, das mehrheitlich außerhalb dieses gemeinsamen Lehrraums stattfindet – zumindest in den von mir unterrichteten Fächern.
Diese Annahme gilt auch für das Argument, ein Studierender müsse ja mit Aufhebung der Anwesenheitspflicht nicht völlig dem Seminar fern bleiben, er könne ja wählen, welche Termine er wahrnimmt und welche nicht und so sinnvoll das Lernen innerhalb und außerhalb des Seminars kombinieren. Dieses Argument ist verständlich und sicherlich immer dann angebracht, wenn ein Seminar auch tatsächlich aus voneinander abtrennbaren Lehr- und Lerneinheiten besteht. In Seminaren der Germanistik und Philosophie ist das aber nur sehr selten der Fall. Wenn ich ein Seminar konzipiere, dann versuche ich einen Bogen zu schlagen, der in allen 13 oder 14 Seminarsitzungen sichtbar bleibt.
Wie ist es also bestellt um die Freiheit des Studierenden, wenn er ‚gezwungen‘ wird an einer Lehrveranstaltung teilzunehmen? In meinen Augen nicht besser und nicht schlechter als sonst auch. Niemand wird gezwungen an meinen Seminaren teilzunehmen, nicht durch die Prüfungsordnung und nicht durch mich – wie gesagt: Ich spreche von Seminaren, welche die Studienordnung nicht als verpflichtend ansieht. Wobei ich denke, dass jeder, der sich für ein Studienfach interessiert und sich entschieden hat, dies zu studieren, mit dieser Entscheidung auch seine Bereitschaft dokumentiert, sich dem Themenspektrum seines Faches auszusetzen. Doch natürlich finden sich in nahezu jedem Studiengang Pflichtveranstaltungen, die sich eines Tages als reformierungsbedürftig herausstellen (werden). Dies zu beobachten und gegebenenfalls auch über die entsprechenden Gremien einer Universität zur Sprache zu bringen ist gutes Recht und wichtige Aufgabe Studierender. Damit helfen sie dem Lehrapparat.
Also gilt: Niemand wird gezwungen ein bestimmtes Seminar zu belegen, niemand wird gezwungen dort eine Leistung zu erbringen, niemand wurde gezwungen besagtes Fach zu studieren oder überhaupt ein Studium aufzunehmen. Sobald ein Studierender in meinem Seminar sitzt, hat dieser bereits eine Vielzahl freier und zu respektierender Entscheidungen getroffen (die natürlich durch finanzielle, strukturelle und persönliche Verhältnisse mitbestimmt werden, welche es im Einzelfall durchaus zu berücksichtigen gilt) und dieser Freiheit wird im Seminar mit einem Lehrangebot begegnet. Wem mein Lehrangebot nicht zusagt, darf das Seminar jederzeit verlassen und wird (zumindest von mir) hieran nicht gehindert.
Aber es gibt wie immer ein ‚aber‘. Es gibt nun einmal Seminare, die aufgrund von Moduldruck belegt werden müssen, um das Studium nicht unnötig zu verlängern. Es gibt nun einmal Seminare, die den hohen Anforderungen guter Lehre nicht entsprechen und es gibt nun einmal Seminare, die – wenn überhaupt – als unverzeihliche Zeitverschwendung in Erinnerung bleiben werden. Wie wäre es also, wenn der Wunsch vieler Dozierender nach regelmäßiger Teilnahme kombiniert wird mit der Entledigung eines notwendigen Übels: der Studienleistung?
Dazu möchte ich anmerken, dass ich Studienleistungen für eine der überflüssigsten Erfindungen der Universitätsgeschichte halte (dazu vielleicht ein andermal mehr). Doch wenn der Dozierende gute Gründe für seinen Wunsch nach regelmäßiger Teilnahme der Studierenden hat, weil er davon überzeugt ist, dass dies im Sinne der Studierenden ist (ob diese dies nun einsehen wollen oder nicht), und Studierende eine Studienleistung benötigen, warum wäre nicht der Schulterschluss die Methode der Wahl? Studienleistung gegen regelmäßige Teilnahme.
Wenn der Dozierende tatsächlich den Besuch wert ist, dann wird der Studierende etwas lernen, was ihm in seinem Studium von Nutzen sein kann, er wird also tatsächlich leistungsfähiger. Wenn der Dozierende den Besuch nicht wert ist, dann hat der Studierende zumindest einen formalen Gewinn. Diese Handhabung ist selbstverständlich freiwilliger Natur, jeder Dozent soll es halten, wie er möchte. Damit wäre keine allgemeine Anwesenheitspflicht gegeben, aber – neben den guten Gründen, die dafür sprechen – ein Kompromiss, der die Studierenden in ihrer Erwartungshaltung effektiv absichert. Eingeschränkt werden kann dieser Vorschlag freilich durch die jeweils geltenden Prüfungsordnungen.
Diesem Vorschlag liegt die Erfahrung zugrunde, dass Studienleistungen in nahezu allen Fällen eine Belastung für beide Seiten darstellen: Studierende sollen meist auf kurzem Raum einen Gedanken formulieren (das nennt sich dann Essay) oder ein Kurzreferat halten (was, weil unbenotet, meist auch entsprechend ausfällt und die Seminarteilnehmenden in fast allen Fällen mehr langweilt als bereichert), Dozierende müssen am Ende des Semesters haufenweise dieser Essays lesen, die, weil unbenotet, meistens ebenfalls entsprechende Qualität aufweisen. Beide Seiten können wenig für diese Misere, insbesondere große Seminare in den Geisteswissenschaften haben wenig Spielraum für kreative Studienleistungsformen.
Aus Perspektive der Studierenden ist es zudem völlig plausibel wenig Energie in eine dreiseitiges Arbeit zu stecken, die am Ende nur „bestanden“ sein soll, aus ökonomischer Sicht sollte ein Dozierender auch nichts anderes erwarten – Ausnahmen, das will ich anmerken, gibt es aber natürlich immer, denn auch ich habe schon großartige Kurzarbeiten gelesen.
Die Prüfungsordnung des sog. fächerübergreifenden Bachelors in Hannover etwa beinhaltet folgenden Passus: „Studienleistungen sind insbesondere Hausübungen, Laborübungen, Präsenzübungen, Praktikumsberichte, Klausuren, Vorträge, Hausarbeiten und Exkursionen, die der laufenden Leistungskontrolle dienen.“ Es ist ersichtlich, dass vieles für ein Seminar in der Germanistik oder Philosophie nicht infrage kommt, zumal eine „laufende Leistungskontrolle“ ein Unterfangen ist, welches ab einer bestimmten Seminargröße nicht mehr praktisch durchführbar ist. Deshalb bin ich – hinsichtlich meines Vorschlages – über den in der Prüfungsordnung folgenden Satz sehr dankbar: „Studienleistungen beinhalten in der Regel die regelmäßige Teilnahme an der dazugehörigen Lehrveranstaltung.“ Kein Dozierender ist nach diesen Sätzen gezwungen eine Form der Studienleistung abzuverlangen, die nicht allein in der regelmäßigen Teilnahme liegt. Damit lässt sich arbeiten. Auf beiden Seiten.
4. Quintessenz
Ich gehöre zu den Dozierenden, die der Ansicht sind, der Besuch des gesamten Seminars sei – in aller Regel – sinnvoller und effektiver als der Besuch ausgewählter Termine oder gar rein digitale Diskussionen. Ich glaube nicht, dass meine Gründe hierfür antiquiert sind oder mir Fähigkeiten in der Nutzung von Social-Media-Formen absprechen. Auch glaube ich nicht, dass ich in die Freiheit meiner Studierenden eingreife. Vielmehr habe ich eine hohe Meinung von meinen Studierenden und mute und traue ihnen zu, dem Seminarbogen zu folgen. Also erlege ich den Studierenden eine Anwesenheitspflicht auf. Damit bleiben Diskussionskontrolle und Bewertung der Lernmaterialien primär (nicht ausschließlich natürlich) in meinen Händen.
Die Entscheidung über die Effektivität aber liegt am Ende bei den Studierenden. Habe ich mein Versprechen nicht halten können, so können sie wenigstens die notwendige Studienleistung mitnehmen (sofern sie eine benötigen). Habe ich mein Versprechen aber halten können, so ist die Erkenntnis am Ende des Semester, dass es sinnvoll war, das Seminar regelmäßig zu besuchen. In meinen Augen ist das ein Vorschlag zur Güte, der – im Licht der aktuellen Universitätsstrukturen – keine Verlierer kennt und niemandem seiner Freiheit beraubt.
Wie aber ist mit den Studierenden umzugehen, die keine Studienleistung, sondern eine Prüfungsleistung brauchen? Diese bekommen ja im ‚Tausch‘ gegen ihre Anwesenheit keine Studienleistung, die sie in jedem Fall, allein durch Erfüllung meiner Forderung nach Anwesenheit, erhalten. Für Studierende, die eine Prüfungsleistung erbringen möchten und keine Studienleistung brauchen, ist die Anwesenheit also die Bedingung, um diese Prüfungsleistung erbringen zu können. Lässt sich dies ebenfalls begründen? Ich denke ja, und zwar mit allem, was ich bisher angeführt habe. Prüfungsleistungen (in welcher Form auch immer) sind die (oftmals alleinigen) Substanzen, die uns Dozierenden zur Bewertung zur Verfügung stehen. Hier kann und darf es keinen Tausch geben, hier gibt es einzig eine Bringschuld der Studierenden. Und auch hier gilt: Muss das Seminar nicht belegt werden, obliegt es jedem Studierenden selbst, ob er diese Vereinbarung anzunehmen bereit ist oder nicht. Und auch an dieser Bereitschaft wird ein Dozierender zumindest einen Teil seiner eigenen Befähigung ablesen können. Eine Einschränkung der Freiheit einer der beteiligten Personen ist für mich auch hier nicht zu erkennen.
Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Seminar und Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie an der Leibniz Universität Hannover.
http://www.germanistik.uni-hannover.de/philipp_bode.html
http://www.philos.uni-hannover.de/phbode.html