Zur Diskussion über das Interview mit Monica Lierhaus
Monica Lierhaus hat vor kurzem in einem Interview geäußert, dass Sie – würde sie nochmal vor die Entscheidung gestellt, ob sie die Operation am Gehirn durchführen lassen wolle – dies heute ablehnen würde: „Ich glaube, ich würde es nicht mehr machen“, sagt sie in dem Interview. Und auf den Einwand ihrer Mutter hin, dass sie sonst heute tot wäre: „Egal. Dann wäre mir vieles erspart geblieben.“ Das sind harte Worte, denn in ihnen drückt sich sehr knapp und prägnant aus, wie sehr Frau Lierhaus unter ihrer Erkrankung gelitten hat und z.T. auch heute noch leidet. Wer den Tod dem Leben vorzieht, muss einiges durchlitten haben.
Dennoch waren die Heftigkeit der Reaktionen und die Kontroverse, die diese Worte ausgelöst haben, erstaunlich. Die Einwände, die in der Diskussion formuliert werden, sind in ethischer Hinsicht durchaus interessant, im Ergebnis m.E. aber irreführend. Die Kritik wurde v.a. von der Bloggerin Christiane Link in einem ZEIT-Blog zum Thema Inklusion und Barrierefreiheit formuliert: In aller Kürze wirft sie Monica Lierhaus vor, mit ihrer Äußerung eine Haltung salonfähig zu machen, gegen die die Inklusionsbewegung seit vielen Jahren ankämpfe. Denn, so das m.E. zentrale Argument von Frau Link:
„Monica Lierhaus stellt damit nicht nur den Wert ihres eigenen Lebens, sondern auch den anderer behinderter Menschen mit ähnlichen Erfahrungen infrage.“
Das wiege aufgrund ihrer Prominenz und des besonderen öffentlichen Charakters ihrer Äußerung besonders schwer. Und so kann Frau Link die Äußerung von Monica Lierhaus dann reibungslos neben die Aussage von Menschen stellen, die über Menschen mit einer Behinderung urteilen: „Ich in deiner Situation wollte so nicht leben„. Ganz ähnlich argumentiert die Bloggerin Julia Probst in einem Interview:
„Lierhaus zeichnet hier das Bild, dass Menschen mit Behinderungen alle am liebsten tot als behindert wären und wertet somit das Leben von Menschen mit Behinderungen ab.“
Im Kern geht es dabei um die Frage, wer das Recht hat solche Urteile über die Lebensqualität eines Menschen zu fällen. Frau Lierhaus hat dieses Urteil als ein rein subjektives Urteil über ihr eigenes Lebens gefällt („Ich glaube, ich würde es nicht mehr machen“). Frau Link und Frau Probst lesen es aber als ein implizites Urteil über das Leben aller Menschen mit solch einer Behinderung und können darum folgern, dass es auch ein Urteil über die Lebensqualität anderer erlaube. Damit sind hier drei unterschiedliche Perspektiven im Gespräch:
- Die subjektive Perspektive von Frau Lierhaus (Ich-Perspektive).
- Eine objektive oder zumindest intersubjektive Perspektive (Man- bzw. Wir-Perspektive).
- Die Perspektive der Fremdzuschreibung (Du-Perspektive).
Die entscheidende Frage ist, ob man von der Ich-Perspektive auf die Man- bzw. Wir-Perspektive schließen darf, wie Christiane Link es in ihrer Kritik ja macht. Monica Lierhaus hat in einem zweiten Interview in Reaktion auf die Ausführungen von Frau Link nochmals sehr deutlich ihr Recht eingefordert, ihr Leben subjektiv so bewerten zu dürfen:
„Es geht um mein Leben, über das ich spreche – und niemand außer mir kann nachempfinden, was ich in den vergangenen sechs Jahren durchgemacht habe.“
Damit hat Monica Lierhaus m.E. das entscheidende Argument benannt, warum man aus der Ich-Perspektive einer Bewertung nicht einfach auf eine Man- oder Wir-Perspektive schließen darf, wie es Frau Link macht. Dabei wird nämlich schlicht übersehen, dass niemand dasselbe Leben lebt oder gelebt hat wie Monica Lierhaus. Andere Menschen mit einer vielleicht ähnlich oder sogar einer identischen Behinderung haben dennoch ein anderes Leben gelebt als Frau Lierhaus, und können darum zu einer anderen subjektiven Bewertung ihres Lebens mit der Behinderung kommen. Darum halte ich die Reaktion von Frau Link für überzogen und nicht sachgerecht.
Eine wirklich angemessene Reaktion zeigt m.E. in dem Interview die Mutter von Monica Lierhaus, indem sie nämlich ihre Dankbarkeit dafür deutlich macht, dass ihre Tochter lebt. Damit setzt sie ihre eigene subjektive Wertung des Ganzen gegen die Bewertung ihrer Tochter, ohne ihr zu sagen, dass ihre Bewertung falsch wäre. Ich halte es auch für angemessen, in Reaktion auf die Äußerung von Frau Lierhaus, deutlich zu machen, dass es andere Menschen gibt, die ihre Lebenssituation anders bewerten. Monica Lierhaus hingegen vorzuwerfen, sie würde, indem sie ihre eigene Lebensqualität nach der Operation in Summe negativ bewertet, auch die Lebensqualität aller Menschen mit einer ähnlichen Behinderung abwerten, ist m.E. schlicht eine Überreaktion. Sie hat ja an keiner Stelle gesagt, dass solch ein Leben grundsätzlich nicht lebenswert sei, sondern redet ausschließlich von ihrem eigenen Leben.
Monica Lierhaus nimmt damit für sich nichts weiter in Anspruch als das jedem von uns verfassungsmäßig zustehende Recht, festzustellen, dass Sie auf eine bestimmte lebenserhaltende Therapie verzichten würde – jetzt wo sie Risiken und Nebenwirkungen dieser Therapie durchlebt hat und daher besser kennt als die meisten. Würde man hingegen die Argumentation von Frau Link wirklich ernst nehmen, dann dürfte auch niemand mehr eine lebenserhaltende Therapie ablehnen, weil er z.B. befürchtet in Folge dieser Therapie schwer pflegebedürftig zu werden. Das wäre – der Logik von Frau Link folgend – nämlich implizit immer auch eine allgemeine Aussage über die Lebensqualität pflegebedürftiger Menschen und würde diese darum diskriminieren. Aber diese Schlussfolgerung stimmt eben nicht! Und das gilt ganz unabhängig davon, ob sie sich öffentlich als prominenten Person oder als Privatperson zu Wort meldet.
Nichts desto trotz – und darum ist die Debatte ethisch überhaupt interessant – gibt es in der Medizin- und Bioethik zahlreiche Diskussionen, in denen ein ähnliches Argument, wie das von Frau Link, dennoch mit einem begrenzten Recht angeführt wird. Die Sorge, dass negative Lebenswertzuschreibungen eine Dynamik entwickeln können, ist nicht völlig unbegründet. Das Argument begegnet ähnlich (aber nicht identisch) z.B. im Kontext der Diskussion über den Schwangerschaftsabbruch, um die Präimplantationsdiagnostik (PID) oder auch über den Assistierten Suizid. Der entscheidende Unterschied ist dabei aber, dass der Ausgangspunkt in diesen Diskussionen immer schon Fremdzuschreibungen von Lebensqualität sind (Du-Perspektive).
Beim Schwangerschaftsabbruch oder der PID geht es um die Frage, ob wir einem ungeborenen Kind bzw. einer In-vitro befruchteten Eizelle eine bestimmte zu erwartende Lebensqualität absprechen dürfen, aufgrund unserer Vorstellungen davon, was es bedeuten würde mit einer Behinderung zu leben. Und auch bei der Diskussion um den assistierten Suizid steht die Frage im Raum, ob das Einwilligen in den Wunsch nach Hilfe bei der Selbsttötung bedeutet, in ein Lebenswerturteil über ein fremdes Leben einzustimmen. Von solch einer Fremdzuschreibung von Lebensqualität ist es aber nur ein sehr kleiner Schritt hin zur Beurteilung von Lebensqualität in der Wir- oder Man-Perspektive. Darum würde ich dem Argument in diesen Kontexten durchaus ein Gewicht zuerkennen, auch wenn es noch nicht unbedingt die ganze Diskussion entscheiden muss.
Sein Gewicht gewinnt dieses Argument hier aber gerade dadurch, dass es einen breiten (auch verfassungsrechtlich verankerten) Konsens darüber gibt, dass die Bewertung der Qualität eines Lebens nur von der betroffenen Person selbst vorgenommen werden darf (Ich-Perspektive). Das heißt die Du- und die Wir- bzw. Man-Perspektive auf die Qualität eines Lebens ist immer problematisch, weil sie die Ich-Perspektive übergeht und damit zu Fremdbestimmung führt. Damit wird aber deutlich wie absurd es ist, jemandemn vorzuwerfen, dass er in einer ganz subjektiven Bewertung für sich das Urteil fällt: „Ich würde es nicht noch mal machen, denn das war es nicht wert.“ Wer, wenn nicht Monica Lierhaus hätte das Recht, dieses Urteil zu fällen?! Wenn wir das nicht mehr zuließen, dann müssten wir in letzter Konsequenz auch jeden Menschen bis zur letzten Möglichkeit lebenserhaltend behandeln – egal ob er oder sie es will oder nicht. Dass das aber keine sinnvolle Option ist, sollte nach den zahlreichen Diskussionen über das Zulassen des Sterbens in den letzten Jahrzehnten deutlich sein.