Darf man eine lebensrettende Operation bereuen?

Zur Diskussion über das Interview mit Monica Lierhaus

Monica Lierhaus hat vor kurzem in einem Interview geäußert, dass Sie – würde sie nochmal vor die Entscheidung gestellt, ob sie die Operation am Gehirn durchführen lassen wolle – dies heute ablehnen würde: „Ich glaube, ich würde es nicht mehr machen“, sagt sie in dem Interview. Und auf den Einwand ihrer Mutter hin, dass sie sonst heute tot wäre: „Egal. Dann wäre mir vieles erspart geblieben.“ Das sind harte Worte, denn in ihnen drückt sich sehr knapp und prägnant aus, wie sehr Frau Lierhaus unter ihrer Erkrankung gelitten hat und z.T. auch heute noch leidet. Wer den Tod dem Leben vorzieht, muss einiges durchlitten haben.

Dennoch waren die Heftigkeit der Reaktionen und die Kontroverse, die diese Worte ausgelöst haben, erstaunlich. Die Einwände, die in der Diskussion formuliert werden, sind in ethischer Hinsicht durchaus interessant, im Ergebnis m.E. aber irreführend. Die Kritik wurde v.a. von der Bloggerin Christiane Link in einem ZEIT-Blog zum Thema Inklusion und Barrierefreiheit formuliert: In aller Kürze wirft sie Monica Lierhaus vor, mit ihrer Äußerung eine Haltung salonfähig zu machen, gegen die die Inklusionsbewegung seit vielen Jahren ankämpfe. Denn, so das m.E. zentrale Argument von Frau Link:

„Monica Lierhaus stellt damit nicht nur den Wert ihres eigenen Lebens, sondern auch den anderer behinderter Menschen mit ähnlichen Erfahrungen infrage.“

Das wiege aufgrund ihrer Prominenz und des besonderen öffentlichen Charakters ihrer Äußerung besonders schwer. Und so kann Frau Link die Äußerung von Monica Lierhaus dann reibungslos neben die Aussage von Menschen stellen, die über Menschen mit einer Behinderung urteilen: „Ich in deiner Situation wollte so nicht leben„. Ganz ähnlich argumentiert die Bloggerin Julia Probst in einem Interview:

„Lierhaus zeichnet hier das Bild, dass Menschen mit Behinderungen alle am liebsten tot als behindert wären und wertet somit das Leben von Menschen mit Behinderungen ab.“

Im Kern geht es dabei um die Frage, wer das Recht hat solche Urteile über die Lebensqualität eines Menschen zu fällen. Frau Lierhaus hat dieses Urteil als ein rein subjektives Urteil über ihr eigenes Lebens gefällt („Ich glaube, ich würde es nicht mehr machen“). Frau Link und Frau Probst lesen es aber als ein implizites Urteil über das Leben aller Menschen mit solch einer Behinderung und können darum folgern, dass es auch ein Urteil über die Lebensqualität anderer erlaube. Damit sind hier drei unterschiedliche Perspektiven im Gespräch:

  1. Die subjektive Perspektive von Frau Lierhaus (Ich-Perspektive).
  2. Eine objektive oder zumindest intersubjektive Perspektive (Man- bzw. Wir-Perspektive).
  3. Die Perspektive der Fremdzuschreibung (Du-Perspektive).

Die entscheidende Frage ist, ob man von der Ich-Perspektive auf die Man- bzw. Wir-Perspektive schließen darf, wie Christiane Link es in ihrer Kritik ja macht. Monica Lierhaus hat in einem zweiten Interview in Reaktion auf die Ausführungen von Frau Link nochmals sehr deutlich ihr Recht eingefordert, ihr Leben subjektiv so bewerten zu dürfen:

„Es geht um mein Leben, über das ich spreche – und niemand außer mir kann nachempfinden, was ich in den vergangenen sechs Jahren durchgemacht habe.“

Damit hat Monica Lierhaus m.E. das entscheidende Argument benannt, warum man aus der Ich-Perspektive einer Bewertung nicht einfach auf eine Man- oder Wir-Perspektive schließen darf, wie es Frau Link macht. Dabei wird nämlich schlicht übersehen, dass niemand dasselbe Leben lebt oder gelebt hat wie Monica Lierhaus. Andere Menschen mit einer vielleicht ähnlich oder sogar einer identischen Behinderung haben dennoch ein anderes Leben gelebt als Frau Lierhaus, und können darum zu einer anderen subjektiven Bewertung ihres Lebens mit der Behinderung kommen. Darum halte ich die Reaktion von Frau Link für überzogen und nicht sachgerecht.

Eine wirklich angemessene Reaktion zeigt m.E. in dem Interview die Mutter von Monica Lierhaus, indem sie nämlich ihre Dankbarkeit dafür deutlich macht, dass ihre Tochter lebt. Damit setzt sie ihre eigene subjektive Wertung des Ganzen gegen die Bewertung ihrer Tochter, ohne ihr zu sagen, dass ihre Bewertung falsch wäre. Ich halte es auch für angemessen, in Reaktion auf die Äußerung von Frau Lierhaus, deutlich zu machen, dass es andere Menschen gibt, die ihre Lebenssituation anders bewerten. Monica Lierhaus hingegen vorzuwerfen, sie würde, indem sie ihre eigene Lebensqualität nach der Operation in Summe negativ bewertet, auch die Lebensqualität aller Menschen mit einer ähnlichen Behinderung abwerten, ist m.E. schlicht eine Überreaktion. Sie hat ja an keiner Stelle gesagt, dass solch ein Leben grundsätzlich nicht lebenswert sei, sondern redet ausschließlich von ihrem eigenen Leben.

Monica Lierhaus nimmt damit für sich nichts weiter in Anspruch als das jedem von uns verfassungsmäßig zustehende Recht, festzustellen, dass Sie auf eine bestimmte lebenserhaltende Therapie verzichten würde – jetzt wo sie Risiken und Nebenwirkungen dieser Therapie durchlebt hat und daher besser kennt als die meisten. Würde man hingegen die Argumentation von Frau Link wirklich ernst nehmen, dann dürfte auch niemand mehr eine lebenserhaltende Therapie ablehnen, weil er z.B. befürchtet in Folge dieser Therapie schwer pflegebedürftig zu werden. Das wäre – der Logik von Frau Link folgend – nämlich implizit immer auch eine allgemeine Aussage über die Lebensqualität pflegebedürftiger Menschen und würde diese darum diskriminieren. Aber diese Schlussfolgerung stimmt eben nicht! Und das gilt ganz unabhängig davon, ob sie sich öffentlich als prominenten Person oder als Privatperson zu Wort meldet.

Nichts desto trotz – und darum ist die Debatte ethisch überhaupt interessant – gibt es in der Medizin- und Bioethik zahlreiche Diskussionen, in denen ein ähnliches Argument, wie das von Frau Link, dennoch mit einem begrenzten Recht angeführt wird. Die Sorge, dass negative Lebenswertzuschreibungen eine Dynamik entwickeln können, ist nicht völlig unbegründet. Das Argument begegnet ähnlich (aber nicht identisch) z.B. im Kontext der Diskussion über den Schwangerschaftsabbruch, um die Präimplantationsdiagnostik (PID) oder auch über den Assistierten Suizid. Der entscheidende Unterschied ist dabei aber, dass der Ausgangspunkt in diesen Diskussionen immer schon Fremdzuschreibungen von Lebensqualität sind (Du-Perspektive).

Beim Schwangerschaftsabbruch oder der PID geht es um die Frage, ob wir einem ungeborenen Kind bzw. einer In-vitro befruchteten Eizelle eine bestimmte zu erwartende Lebensqualität absprechen dürfen, aufgrund unserer Vorstellungen davon, was es bedeuten würde mit einer Behinderung zu leben. Und auch bei der Diskussion um den assistierten Suizid steht die Frage im Raum, ob das Einwilligen in den Wunsch nach Hilfe bei der Selbsttötung bedeutet, in ein Lebenswerturteil über ein fremdes Leben einzustimmen. Von solch einer Fremdzuschreibung von Lebensqualität ist es aber nur ein sehr kleiner Schritt hin zur Beurteilung von Lebensqualität in der Wir- oder Man-Perspektive. Darum würde ich dem Argument in diesen Kontexten durchaus ein Gewicht zuerkennen, auch wenn es noch nicht unbedingt die ganze Diskussion entscheiden muss.

Sein Gewicht gewinnt dieses Argument hier aber gerade dadurch, dass es einen breiten (auch verfassungsrechtlich verankerten) Konsens darüber gibt, dass die Bewertung der Qualität eines Lebens nur von der betroffenen Person selbst vorgenommen werden darf (Ich-Perspektive). Das heißt die Du- und die Wir- bzw. Man-Perspektive auf die Qualität eines Lebens ist immer problematisch, weil sie die Ich-Perspektive übergeht und damit zu Fremdbestimmung führt. Damit wird aber deutlich wie absurd es ist, jemandemn vorzuwerfen, dass er in einer ganz subjektiven Bewertung für sich das Urteil fällt: „Ich würde es nicht noch mal machen, denn das war es nicht wert.“ Wer, wenn nicht Monica Lierhaus hätte das Recht, dieses Urteil zu fällen?! Wenn wir das nicht mehr zuließen, dann müssten wir in letzter Konsequenz auch jeden Menschen bis zur letzten Möglichkeit lebenserhaltend behandeln – egal ob er oder sie es will oder nicht. Dass das aber keine sinnvolle Option ist, sollte nach den zahlreichen Diskussionen über das Zulassen des Sterbens in den letzten Jahrzehnten deutlich sein.

„Assistierter Suizid: Der Stand der Wissenschaft“

Nachlese zur Berliner Tagung über Suizidhilfe

Am 15.6.2015 fand in der Berliner Akademie der Wissenschaften eine hochkarätig besetzte Tagung zur aktuellen Diskussion über die Hilfe zur Selbsttötung statt. Veranstaltet wurde sie von den Verfassern des sog. Münchener Gesetzentwurfes Gian Domenico Borasio, Ralf J. Jox, Jochen Taupitz und Urban Wiesing. Die Tagungsveranstalter haben also in der aktuellen Diskussion deutlich Position bezogen, indem sie die Adaption des Regelungsmodells für den ärztlich assistierten Suizid aus dem US-Bundesstaat Oregon propagieren. Man durfte also durchaus gespannt sein, wie offen die Diskussion auf der Tagung auch für andere Positionen war.

Ich werde im Folgenden nicht die gesamte Tagung dokumentieren, sondern möchte auf einige Aspekte und Diskussionen eingehen, die mir im Nachgang zu der Tagung wichtig erscheinen. Die gesamte Tagung kann nach wie vor auf der Seite http://www.suizidhilfe-tagung.de angesehen werden.

„„Assistierter Suizid: Der Stand der Wissenschaft““ weiterlesen

Ist ärztliche Hilfe zur Selbsttötung verboten?

In meinem ersten Blogbeitrag zur aktuellen sogenannten Sterbehilfe-Diskussion habe ich versucht deutlich zu machen, dass es gegenwärtig lediglich eine Diskussion über die Hilfe zur Selbsttötung gibt und dass diese Diskussion ganz sicher keine Diskussion über die Liberalisierung der geltenden Rechtslage ist, sondern dass es im Wesentlichen um eine Verschärfung des Strafrechtes geht. Dabei habe ich allerdings die besondere Situation der Ärzteschaft ausgespart, obwohl diese Diskussion damit begonnen hat, dass innerhalb der Ärzteschaft diskutierte wurde und wird, ob und inwieweit ärztliche Hilfe zur Selbsttötung ethisch vertretbar ist und ob und wie diese Frage berufsrechtlich geregelt werden soll.

Die Rolle des Arztes in der Perspektive des Strafrechts

Zunächst ist es wichtig den strafrechtlichen Hintergrund im Blick auf die Rolle von Ärzten klarzumachen. So wurde nämlich sehr lang diskutiert (insb. im Zusammenhang mit einem BGH Urteil aus dem Jahr 1984), ob ein Arzt, der z.B. ein tödliches Mittel zur Verfügung stellt, sich nicht spätestens dann der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen würde, wenn der Suizident dieses Mittel einnimmt und der Arzt ihn sterben lässt. Hat der Arzt nicht schon von Berufs wegen die Pflicht das Leben des Suizidenten zu retten? – Diese Frage nach der ärztlichen Garantenpflicht wurde lange kontrovers diskutiert, kann aber inzwischen strafrechtlich als beantwortet gelten: Es besteht für den Arzt keine Pflicht zur Lebensrettung, wenn klar ist, dass es sich um einen sogenannten freiverantwortlichen Suizid handelt. Auch wenn der BGH das 1984 noch anders entschieden hat, hat sich 2006 der Deutsche Juristentag (siehe S. 11 des Protokolls) hier inhaltlich eindeutig festgelegt und diese Festlegung ist inzwischen auch gängige Rechtspraxis. Die Garantenpflicht des Arztes hat ihre Grenze im Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Vom Strafrecht her gesehen, droht also auch einem Arzt, der ein tödliches Medikament bereitstellt, kein Ungemach, wenn denn klar ist, dass der Suizidwunsch eine freie und wohlerwogene Entscheidung des Betroffenen ist. Der Arzt muss dann auch nicht den Raum verlassen, um sich nicht der unterlassenen Hilfeleistung schuldig zu machen, wenn die betroffene Person sich selbst tötet (so wird es oft noch dargestellt). Der einzige Haken ist dabei, dass es nach 1984 kein höchstrichterliches Urteil mehr gegeben hat, dass dies bestätigt, gleichwohl ist es gängige Rechtsauffassung und -praxis.

Die berufsethische und berufsrechtliche Frage

Mit dieser strafrechtlichen Einordnung ist natürlich noch nichts über die ethische Diskussion gesagt, ob es denn dem Ethos des Arztberufes angemessen ist, so zu handeln. Für diese Diskussion sind im Wesentlichen zwei Texte von Bedeutung: die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung und die Berufsordnungen der Ärztekammern. Die „Grundsätze“ sind ein wichtiges Papier, in dem die wesentlichen ethischen und auch rechtlichen Orientierungspunkte für die medizinische Begleitung Sterbender geregelt sind. In der Präambel äußert sich dieser Text auch zu den Aufgaben des Artzes und zu dessen Grenzen. So lautete der letzte Satz dieser Präambel bis Januar 2011 noch: „Die Mitwirkung des Arztes bei der ärztlichen Selbsttötung widerspricht dem ärztlichen Ethos“: Vor dem Hintergrund einer Umfrage aus dem Jahr 2010, durchgeführt vom Institut für Demoskopie Allensbach, kam es nun im Januar 2011 zu einer Änderung dieses Satzes. Die Umfrage hatte nämlich ergeben, dass 30 % der Ärzteschaft eine Regelung befürworten würden, „die es einem Arzt erlaubt, einen unheilbar Kranken beim Suizid zu unterstützten“ (Folie 12). Damit war die Frage aufgeworfen, ob denn die Hilfe zur Selbsttötung wirklich dem ärztlichen Ethos widerspricht. Um dieser Diskussion entgegenzukommen, wurde der entsprechende Satz in der Präambel nun so umformuliert, dass er gar keinen Bezug mehr auf eine unmittelbar ethische Dimension hat. So lautet dieser Satz nun: „Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung ist keine ärztliche Aufgabe.“ Die meisten lesen diesen Satz nicht als ein grundsätzliches Verbot der ärztlichen Suizidhilfe – auch wenn einige wichtige Mitautoren dieses Textes das anders sehen (wie im FAZ-Artikel vom 28.4.2011 nachzulesen). Die Aussage, dass es nicht die Aufgabe von Ärztinnen und Ärzten ist bei der Selbsttötung zu helfen, setzt sicher ein klares Signal gegen den ärztlich assistierten Suizid. Es heißt meines Erachtens aber schon rein logisch nicht, dass Ärzte das grundsätzlich nicht tun dürfen. Allerdings würde es wohl problematisch werden, wenn ein Arzt oder eine Ärztin regelmäßig Hilfe zur Selbsttötung anbietet – denn dann scheint er es als seine reguläre Aufgabe zu begreifen. „Es ist nicht die Aufgabe …“ heißt zumindest: Es sollte höchstens in Ausnahmefällen geschehen. Während also die Änderung der Grundsätze von vielen eher als eine vorsichtige Öffnung verstanden wurde, zeichnete sich in demselben Zeitraum eine Verschärfung des Berufsrechtes ab. Denn vom 31.5. bis zum 3.6.2011 tagte der 114. Deutsche Ärztetag in Kiel und beriet u.a. auch über den § 16 der Musterberufsordnung für Ärztinnen und Ärzte. In diesem Paragraphen sind Fragen der Begleitung Sterbender geregelt. Vor der Änderung 2011 stand dort: „Ärztinnen und Ärzte dürfen das Leben der oder des Sterbenden nicht aktiv verkürzen.“ Diese Formulierung war auf jeden Fall revisionsbedürftig, denn was „aktiv verkürzen“ heißt, ist völlig unklar (die Hintergründe dazu finden sie im vorangehenden Blogbeitrag). In der Musterberufsordnung wurde dieser Satz nun ersetzt: Zum Einen durch ein klares Verbot der Tötung auf Verlagen (die ja auch strafrechtlich verfolgt wird), und zum Anderen durch den folgenden Satz: „Sie [=Ärztinnen und Ärzte] dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“ Damit stand und steht erstmals ein glasklares Verbot der ärztlichen Suizidhilfe in der Musterberufsordnung. Dieses Verbot sorgt denn auch bis heute reichlich für Diskussionen. Diese Diskussionen kommen vor allem auch deswegen nicht zur Ruhe, weil nicht alle Landesärztekammern der Änderung der Musterberufsordnung gefolgt sind. Die Musterberufsordnung (MBO) selber hat nämlich keine Rechtsverbindlichkeit. Die rechtsverbindlichen Berufsordnungen erlassen allein die Landesärztekammern als Körperschaften öffentlichen Rechtes. Derer gibt es in Deutschland 17 (diese halten sich genau so wenig an die Grenzen der Bundesländer wie die evangelischen Landeskirchen). Von diesen 17 haben alle über die Änderung beraten, nur 10 haben die Änderung im §16 so übernommen, wie in der MBO vorgeschlagen. Sieben Landesärztekammern haben kein kategorisches Verbot der ärztlichen Suizidhilfe in ihre Berufsordnung übernommen. Manche habe eine abgeschwächte Fassung übernommen (“ … sollen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“) oder haben die Formulierung der Grundsätze in die BO übernommen („Es ist nicht die Aufgabe …“). Eine Übersicht über die Regelungen in den unterschiedlichen Landesärztekammern finden Sie hier. Was diese unterschiedlichen rechtlichen Regelungen in den unterschiedlichen Landesärztekammern letztlich bedeuten, ist gegenwärtig unklar und auch strittig. Deutlich wird damit aber, dass es innerhalb der Ärzteschaft definitiv keinen Konsens darüber gibt, wie mit der Hilfe zur Selbsttötung umzugehen ist. Deutlich wird aber auch: Die wenigsten wollen, dass die Hilfe zur Selbsttötung gewissermaßen ein ärztliches Angebot neben anderen ist, sondern es geht den Kritikern des Verbotes der ärztlichen Suizidhilfe vor allem darum, dass Ausnahme- und Grenzfälle anerkannt werden. Insofern geht es in ethischer Perspektive in erster Linie um die Frage, ob eine Ablehnung der ärztlichen Suizidhilfe eine Frage dessen ist, was erstrebenswert ist (und da sind sich die meisten einig, dass Suizidhilfe nicht erstrebenswert ist) oder ob es eine Frage ist, die durch ein Verbot geregelt werden kann.

Überschneidungen zur aktuellen politischen Diskussion

Wie hängen nun die beiden Diskussionen, also a) die politische Diskussion über eine Verschärfung des Strafrechtes bezüglich der Suizidhilfe und b) die Diskussion über den ethischen und berufsrechtlichen Umgang mit der ärztlichen Suizidhilfe überhaupt zusammen? Grundsätzlich ist es so, dass bundesrechtliche Regelungen über berufsrechtlichen stehen – d.h. Bundesrecht bricht Berufsrecht. Das erlaubt allerdings, dass das Berufsrecht strengere Regeln aufstellt als das allgemeine Strafrecht: So ist es ja gegenwärtig auch der Fall. Strafrechtlich ist die Hilfe zur Selbsttötung Ärzten nicht verboten, vom Berufsrecht her aber in den meisten Landesärztekammern schon. Die aktuelle diskutierten Verschärfungen des Strafrechtes würden daran auch nichts ändern. Eine problematische Spannung zwischen Bundesrecht und Berufsrecht entstünde erst dann, wenn ein Gesetz für bestimmte Ausnahmefälle die Hilfe zur Selbsttötung erlauben würde. Dann würde dieses Bundesrecht nämlich das aktuelle ärztliche Berufsrecht brechen, weil diese Erlaubnis dann auch für Ärzte gelten würde. Mindestens eine der aktuell diskutierten Positionen im Bundestag sieht eine solche Regelung vor, nämlich der Vorschlag der Gruppe um Peter Hintze und Carola Reimann, der sich am Modell des Bundesstaates Oregon orientiert, und ein rechtliche Regelung für zulässige Fälle von Hilfe zur Selbsttötung anstrebt. Zu diesen unterschiedlichen Positionen, die in der politischen Debatte vertreten werden, dann mehr im nächsten Blogbeitrag zu diesem Thema. Als Antwort auf die Titelfrage dieses Blogbeitrages – „Ist ärztliche Hilfe zur Selbsttötung verboten?“ – ist die Antwort also ein klares „Jein“ – strafrechtlich gibt es kein Verbot (Nein), berufsrechtlich ist sie in 10 von 17 Landesärztekammern verboten (z.T. also Ja). Das heißt andererseits: In 7 Landesärztekammern ist es nicht eindeutig verboten (Nein). In dieser berufsrechtlich unklaren Lage spiegelt sich die ethische Umstrittenheit der ärztlichen Hilfe zur Selbsttötung auch unter Ärzten wieder.  

„Sterbehilfe“: Was wird eigentlich diskutiert?

Die sogenannte Sterbehilfe-Diskussion nimmt mal wieder an Fahrt auf, da demnächst wohl auch mit ersten Gesetzesentwürfen für die Anfang Juli anstehende Bundestagsdebatte zu rechnen ist. Bisher wurden ja nur Eckpunktepapiere diskutiert. Im Blick darauf, was da eigentlich diskutiert wird, kursieren in den Medien und in der öffentlichen Diskussion allerdings reichlich viele Missverständnisse und auch manche absurde Behauptung – und von den Missverständnissen bleiben offensichtlich auch amtierende Bundesrichter nicht verschont, wie man an der ZEIT-Kolumne von Thomas Fischer in erschreckender Weise studieren kann. „„Sterbehilfe“: Was wird eigentlich diskutiert?“ weiterlesen

Oma Marie, Homosexualität und innerkirchlicher Pluralismus

Das Thema „Homosexualität“ sorgt mal wieder für kontroverse Diskussionen innerhalb der Kirche. Der Anlass ist eine Reportage des NDR, in der der Reporter Christian Decker sich auf die Suche nach Christinnen und Christen begibt, die Homosexualität und Homosexuelle verurteilen.

Und es fällt ihm nicht schwer diese zu finden – man muss nur wissen, wo man suchen muss; nämlich v.a. in bestimmten evangelikalen, fundamentalistischen Kreisen, die eine recht einseitige Form der Bibelauslegung betreiben. Diese findet man zunächst einmal recht leicht außerhalb der Landeskirchen, also in einigen (nicht allen!) Freikirchen. Und dort deckt Herr Decker auch erschreckendes auf – bis hin zu einem Arzt, der anscheinend bei Homosexuellen so eine Art Dämonenaustreibung versucht. Dass der „Schwulenhass“ bei solchen christlichen Randgruppen vertreten wird, reicht Decker aber nicht (es wäre auch nichts sonderlich Neues), er will – so zumindest mein Eindruck –  auch die evangelischen Landeskirchen vorführen und sucht darum unter den Pastoren der Landeskirchen nach einem Evangelikalen, der vor der Kamera Homosexualität als Sünde bezeichnet und davon redet, dass man auch Homosexuellen Heilung anbieten solle. Und wer nur gründlich genug sucht, findet natürlich auch jemanden, der das so sieht: Herr Decker hat Pastor Gero Cochlovius in Hohnhorst gefunden und hat ihn (nach einer zuvor abgelehnten Interviewanfrage) vor der Kirche abgefangen und interviewt und ihm einige Aussagen entlockt, die auch ich alles andere als erfreulich oder Zustimmungswürdig finde (ausführlich zitiert ist das, was von Cochlovius in der Reportage gesagt wird hier).

Der Kontext der Sendung suggeriert dabei, dass Cochlovius die Praxis des Geisteraustreibenden Arztes unterstützen würde – etwas das Cochlovius und der Kirchenvorstand inzwischen entschieden zurückgewiesen haben (s. Stellungnahme der Gemeinde). Es fällt schon beim Angucken der Sendung auf, dass Cochlovius offensichtlich auf kaltem Fuß erwischt wird: Er wirkt nicht sonderlich gut vorbereitet und begeht den Fehler sich in das Interview hineinziehen zu lassen. Das journalistische Vorgehen von Herrn Decker scheint mir da in mancher Hinsicht doch sehr fragwürdig zu sein (lesenwertes dazu hier). Zwar versucht die Reportage den Anschein einer Kontextualisierung der Position von Cochlovius, indem auch ein offizieller Vertreter der EKD befragt wird, der ja auch deutlich sagt, dass diese Meinung innerhalb der Kirchen der EKD eine Außenseitermeinung ist: Aber demgegenüber wird dann immer wieder suggestiv festgehalten: Die EKD lasse ja auch solche Leute in ihren Reihen gewähren, die Homosexualität als Sünde bezeichnen.

Spätestens an diesem Punkt habe ich mich als Theologe und Pastor dieser Landeskirche gefragt: „Was will denn Herr Decker eigentlich?“ Sollen wir jetzt in der evangelischen Kirche ein zentralistisches Lehramt einführen, das quasi ex cathedra wie der Papst in Rom die „Irrlehre“ aus den eigenen Reihen verbannt? Das kann doch nicht ernsthaft die Forderung sein! So lange der innerkirchliche Pluralismus der evangelischen Kirche dem dient, dass es zu produktiven Auseinandersetzungen mit neuen Entwicklungen kommt, gilt er als gut, aber wenn es darum geht, ob wir als Kirche auch Positionen aushalten, die von der Mehrheit (und in diesem Falle auch von mir) kritisiert werden, soll Schluss sein mit der innerkirchlichen Pluralität? Ich bin wirklich nicht der Meinung, die der Kollege aus Hohnhorst vertritt! Aber diese Spannung lassen sich nicht dadurch lösen, dass wir die evangelische Kirche lehramtlich Monopolisieren. Schon rein organisatorisch ist es abwegig, wenn Herr Decker nach der EKD ruft, die in diesem Fall überhaupt keine Befugnisse hat, denn Lehrfragen, werden in den jeweiligen Landeskirchen verhandelt und diskutiert.

Nun, ich habe die Sendung gesehen und erst einmal wieder vergessen, bis ich dann laß, dass Oma Marie deswegen aus der Ev. Kirche ausgetreten ist und dass sich Ihr Brief dazu auf Facebook großer Beliebtheit erfreut. Marie, 84 Jahre alt, ist aus Protest gegen die Äußerung des Kollegen Cochlovius, der in ihrer Nachbargemeinde Pastor ist, aus der Kirche ausgetreten – um ein Zeichen zu setzen: zur Unterstützung ihrer homosexuellen Enkel. Das verlangt mir zunächst Respekt ab, weil ich das Maß an Unterstützung und auch die Geradlinigkeit dieser alten Dame bewundernswert finde. Dennoch finde ich den Austritt eine Überreaktion auf eine für meinen Eindruck recht einseitige Reportage, die v.a. auf die Skandalisierung abzuzielen scheint. Ich bin froh, dass es daraufhin aus der Evangelischen Kirche viele öffentliche Reaktionen gab: von der Webseite evangelisch.de über einen offenen Brief des Landesbischofes der Hannoverschen Landeskirche Ralf Meister, bis hin zu einem Facebook-Post des EKD Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm gab es klare Positionierungen. Führende Vertreter und die Mehrheit der Evangelischen Kirche in Deutschland halten Homosexualität nicht für eine Sünde und Homosexuelle müssen nicht geheilt werden. Und auch ich sehe das so!

Wer nun aber auf die evangelische Kirche schimpft, weil sie nicht klar genug gegen Personen vorgehe, die eine andere Meinung vertreten, hat schlicht nicht verstanden, wie Kirche im evangelischen Verständnis funktioniert und welche Rolle moralische Überzeugungen für das Kirche-Sein der Kirche spielen. Es gehört geradezu zum Kern evangelischer Überzeugung, dass der Glaube (manche sagen auch: die Heilsgewissheit) nicht von den moralischen Überzeugungen abhängt, die jemand vertritt und nach denen er lebt. Sondern es war gerade die wesentlich Einsicht Luthers (in Rückbesinnung auf Paulus), dass wir als Christen zu allererst aus der Vergebung leben, weil wir alle ständig an unseren moralischen Maßstäben scheitern. Die Zusage dieser Vergebung (=Evangelium), insbesondere in der Rede von Gott („Predigt“) und in der Gabe der Sakramente, ist nach einem der zentralen Bekenntnistexte der lutherischen Kirchen das, woran man die wahre Kirche erkennt (Confessio Augustana, Art. 7: „Denn dies ist genug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen, dass da einträchtig nach dem reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden.“). Das heißt in Fragen der Lebensführung kann und wird es immer Streitpunkte geben, die wir als Christinnen und Christen aushalten müssen. Das zeigt sich in der Evangelischen Kirche an vielen Stellen, z.B. auch in den Fragen der Medizin- und Bioethik, mit denen ich mich beruflich beschäftige. Das ist aber auch in vielen anderen ethischen Fragen so: eben auch in Fragen der Sexualethik.

In diesen Diskussionen ist viel Fingerspitzengefühl von allen Seiten gefragt – und ein kurzes Interview in einer Reportage ist eher nicht der Ort für solch ein schwieriges, emotional belastetes Thema. Gerade im Blick auf den Umgang mit Homosexualität müssen sich auch diejenigen, die in Deutschland – auch in der Evangelischen Kirche – die Mehrheit bilden (und dazu zähle ich auch mich), klar machen, dass wir in der weltweiten Christenheit nicht unbedingt eine Mehrheitsmeinung vertreten. Der Umgang mit Homosexualität bleibt in der weltweiten Christenheit strittig, denn es geht um schwierige Fragen der Auslegung der biblischen Texte, die sich m.E. nicht einfach durch eine gründliche Exegese dieser Texte klären lassen, sondern die auch eine systematisch-theologische Klärung bezüglich der Gewichtung und Interpretation biblischer Texte überhaupt verlangen. Und hier gibt es eben innerhalb der Christenheit sehr unterschiedliche Auffassungen.

Entscheidend ist dabei v.a., dass die Diskussion und der Streit darüber von gegenseitigem Respekt geprägt ist. Dass also nicht andere herabgesetzt oder diskriminiert werden: Das ist natürlich immer eine schwierige Gradwanderung. Wenn eine Gruppe sagt, dass sie eine bestimmte Form der Lebensführung für nicht mit dem Glauben vereinbart hält, wirkt das sehr schnell nach einer Herabsetzung aller derer, die so leben. Und es ist die Aufgabe derer, die das so formulieren, deutlich zu machen, wieso das keine Diskrimnierung sein soll. So ist es m.E. sehr wichtig, dass Pastor Cochlovius und der Kirchenvorstand in ihrer Stellungnahem noch einmal deutlich gemacht haben, dass sie es akzeptieren, dass andere Christinnen und Christen die Bibel bei diesem Thema anders auslegen – und das sie damit auch Homsexuellen keine grundlegenden Rechte absprechen wollen. Man kann natürlich darüber streiten, ob das reicht (mir reicht es natürlich auch nicht). Aber wir alle sollten uns in dieser Diskussion eine gewisse Irrtumstolleranz angewöhnen: Das aber geht nur, wenn wir diese Frage nicht zum status confessionis erheben, also nicht dem anderen seinen christlichen Glauben absprechen, weil er eine andere Meinung dazu vertritt als wir es tun.

Damit wir diese Diskussionen aber innerhalb der Kirche führen können, ist es wichtig, dass diejenigen, die eine andere Meinung vertreten als Pastor Cochlovius, nicht einfach aus der Kirche austreten, sondern in ihr bleiben und sich in der Kirche zu Wort melden.

Der Deutsche Ethikrat zu Organtransplantation und Hirntod, Teil III

In Teil I und II meiner kleinen Blogreihe zur neuen Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zur Organtransplantation habe ich bereits thematisiert, dass der Ethikrat in seiner Stellungnahme erfreulich offen mit den Ambivalenzen des Themas umgeht und dass im Blick auf die Deutung des Hirntodes zwei unterschiedliche Positionen vertreten werden. Position A geht davon aus, dass der Hirntod ein hinreichendes Kriterium für die Feststellung des Todes eines Menschen ist, während Position B dies nicht so sieht. Zugleich habe ich aber bereits angedeutet, dass die Vertreter von Position B dem m.E. zwei unterschiedliche Positionen entgegensetzen, nämlich das hirntote Menschen entweder in einem Zustand minimaler Lebendigkeit sind (B1) oder dass sie weder lebend noch tot sind (B2). In diesem Blogbeitrag geht es mir nun darum, was aus dieser Differenz für Konsequenzen gezogen werden und zwar (1) im Blick auf die sog. dead-donor-rule und (2) im Blick auf den Umgang mit Informationen zur Organspende.

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Der Deutsche Ethikrat zu Organtransplantation und Hirntod, Teil II

Wie tot ist hirntot?

Diese – natürlich etwas verkürzt formulierte Frage – steht im Mittelpunkt des ersten Teils der Kontroverse, die in der neuen Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zu Hirntod und Organtransplantation dargestellt ist. In Teil I meiner Kommentierung habe ich bereits einiges zum besonderen Charakter dieser Stellungnahme geschrieben und möchte nun in den weiteren Beiträgen die wesentlichen kontroversen Punkte herausarbeiten.

Organe dürfen nach der geltenden rechtlichen Regelung nur toten Menschen entnommen werden. Dabei muss nach dem Transplantationsgesetz (TPG), der Tod „nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt“ werden (§ 3, Abs. 1).  Darum ist die Frage, welcher Zustand als Zustand des Todes gilt von erheblicher Bedeutung für die Transplantationsmedizin.

Man muss sich, um die Problematik zu verstehen, klar machen, dass vor der Erfindung der Herz-Lungen-Maschine (die erst in den 1960er Jahren in Serie produziert in die medizinische Versorgung einzog) die Todesfeststellung kein Problem war: Es galt das relativ unproblematisch zu verifizierende Kriterium des Herz-Kreislauf-Todes. Mit dem Versagen des Herzens und dem daraus resultierenden Zusammenbruch des Kreislaufes galt ein Mensch als tot. Nach Erfindung der Herz-Lungen-Maschine konnte man nun aber Menschen in diesem Zustand am Leben erhalten – und man kann es auch heute noch. Damit aber stellte sich die Frage, wann Menschen in diesen Zustand als tot gelten sollen? Diese Frage stellt sich mit Blick auf zwei verschiedenen Kontexte: Das eine ist, dass die anerkannte Feststellung des Todes bedeutet, dass jegliche lebenserhaltende Maßnahme einzustellen ist. Das andere, dass man einem Patienten, der als tot gilt, Organe entnehmen kann, ohne ihn zu töten (denn er ist dann ja schon tot). Der Zustand des Hirntodes ist dabei für die Transplantation so bedeutsam, weil allein in diesem Zustand die Organe des Menschen noch so gut durchblutet werden, dass man sie gut transplantieren kann – zugleich aber gilt der Mensch als tot, so dass die Entnahme der Organe nicht als Tötung gilt.

Allerdings ist der Hirntod umstritten – schon seit der Einführung dieser Definition im Jahr 1968 ist umstritten, ob es angemessen ist, Menschen im Zustand des Hirntodes wirklich als Tote zu behandeln. Dabei gab es in Deutschland wohl immer eine Mehrheit, die diese Definition mit getragen hat, aber unumstritten war die Definition nie. Die aktuelle Stellungnahme des Ethikrates macht deutlich, dass diese Diskussion mitnichten erledigt ist. Zugleich macht sie deutlich, wo es bei allen Differenz dennoch gemeinsame Grundlagen gibt.

Gemeinsame Grundlagen

Der Hirntod ist definiert als der irreversible Ausfall von Groß-, Klein- und Stammhirn. Er kann anhand klinischer Untersuchungen einwandfrei festgestellt werden (Hirntoddiagnostik), bildgebende Verfahren können dabei eine Unterstützung sein. Diese Definition und die Hirntoddiagnostik sind im Ethikrat unstrittig. Der Streit setzt erst bei der Frage ein, was aus diesem Zustand für das Leben des ganzen Menschen zu folgern ist.

Die Diskussion des Problems wird unterfüttert durch eine – gerade in ihrer Komprimiertheit – eindrückliche Geschichte der philosophisch-anthropologischen Todesdeutungen, die v.a. deutlich macht, wie vielfältig und unterschiedlich die Verständnisse des Todes im Verlaufe der Philosophie- und Geistesgeschichte waren. Dabei irritiert es allerdings, dass sich diese Darstellung ausschließlich auf die philosophischen Reflexionen des Todes konzentriert, und den großen Bereich der ganz praktisch vollzogenen und m.E. äußerst wirkmächtigen Ausdeutung des Todes in der religiösen Praxis völlig ausklammert. Es scheint mir dagegen naheliegend, dass die religiösen Deutungen des Todes – insbesondere die alltagsreligiösen – sehr viel wirkmächtiger waren und sind als manche philosophische Diskussion über den Tod. Nicht dass diese uninteressant wären, aber nur auf die reflektierten philosophischen Konzepte zu blicken, ist doch ein eher einseitiges Verständnis von Geistesgeschichte.

Bezüglich der Folgerungen, die daraus für die gemeinsame Grundlage einer einheitlichen Todeskonzeption gezogen werden, ist sich der Ethikrat zumindest in der Ablehnung einer Position einig: Der Hirntod gilt nicht deswegen als der Tod des Menschen, weil er das irreversible Erlöschen des Bewusstseins bedeutet. Der Verlust mentaler Fähigkeiten ist zwar eine notwendige Voraussetzung dafür, vom Tod eines Menschen zu sprechen, er ist aber kein hinreichender Grund. Würde man dieser im internationalen Diskurs durchaus auch vertretenen mentalistischen Begründung des Hirntodes folgen, dann müsste man auch Menschen im Zustand des apallischen Syndroms (sog. Wachkoma) als Tote behandeln. Die Mitglieder des Ethikrates sind sich darin einig, dass diese Begründung nicht ausreicht. Sie heben vielmehr auf die Frage ab, ob der menschliche Organismus unabhängig von der Frage des Bewusstseins noch als ein lebender Organismus betrachtet werden muss. Das heißt der Einigkeit in der Ablehnung einer mentalistischen Begründung des Hirntodes (1) entspricht in positiver Hinsicht die Überzeugung, dass für den Tod des Menschen die Frage der Lebendigkeit des Organismus entscheidend ist (2).

In noch einem dritten Punkt, ist sich der Ethikrat einig: Der Zustand des Hirntodes ist irreversibel und stellt eine besondere Zäsur in ethischer und rechtlicher Hinsicht dar (3). So erlischt mit der Diagnose des Hirntodes jegliche medizinische Indikation zur Weiterbehandlung. Das heißt die Alternative zur Entnahme von Organen in diesem Zustand ist das Abschalten aller lebenserhaltenen medizinischen Maßnahmen.

Es sind also zusammenfassend drei gemeinsame Grundlagen:

  1. Der Hirntod begründet nicht deshalb den Tod des Menschen, weil er das Ende des Bewusstseins ist.
  2. Die Grenze zwischen Leben und Tod macht sich an der Lebendigkeit des menschlichen Organismus fest.
  3. Mit der Diagnose Hirntod erlöschen alle medizinischen Indikationen zur Weiterbehandlung.

Die Differenz entsteht nun im Blick auf die Frage, wie die Annahme (2) zu konkretisieren ist. Hintergrund der Diskussion sind dabei u.a. die Studien des amerikanischen Neurologen Alan Shewmon, aufgrund derer die Frage auch in den USA erneut intensiv diskutiert wurde – bis hinauf zum President’s Council on Bioethics, das 2008 ein vielbeachtetes White Paper zur Hirntoddefinition veröffentlichte.

Position A: Hirntote Menschen sind tot

Die Mehrheit des Ethikrates ist – wie auch die Mehrheit des President’s Council in den USA – der Auffassung, dass der Ausfall aller Funktionen des Gehirns das Ende der Integration des menschlichen Gesamtorganismus bedeutet und darum mit dem Tod des Menschen gleichzusetzen sei. „Das Gehirn erbringt die für den gesamten Organismus notwendige Integrationsleistung, ohne die er nicht als leibseelische Ganzheit existieren könnte“ (S. 73). Die Vertreter dieser Position bestreiten nicht, dass auch andere Organsysteme eine Integrationsleistung erbringen, sehen aber einen qualitativen Unterschied in der Integrationsleistung, die das Gehirn für den Gesamtorganismus erbringt, weil allein das Gehirn den gesamten menschlichen Organismus integrieren könne. Entsprechend ist für diese Mitglieder des Ethikrates die Qualität und Intensität der medizinischen Versorgung eines hirntoten Patienten qualitativ anderes zu bewerten als der medizinische Ersatz eines anderen einzelnen Organs.

Position B: Der Hirntod ist nicht der Tod des Menschen

Die Gegenposition hingegen zweifelt ausgehend von Alan Shewmons Arbeiten die Behauptung an, dass der menschliche Organismus allein durch das Gehirn zu einer Einheit integriert wird, bzw. dass die Integrationsleistung des Gehirns sich weitreichend von der Integrationsleistung anderer Organsysteme unterscheide: „Zwar übt das Gehirn wesentliche Funktionen für die Aufrechterhaltung des Organismus aus (z. B. die Atemstimulation), doch sind diese Funktionen (jenseits der „mentalen“) grundsätzlich intensivmedizinisch ersetzbar. Das Gehirn ist aus biologischer Sicht keine unersetzliche Integrations- und Koordinationsstelle des Organismus“ (S. 84). Man kann dabei m.E. zwei unterschiedliche Argumente im Text ausmachen:

(1) Das philosophische Argument, das den zugrunde liegenden Organismusbegriff anzweifelt, und an seine Stelle das Modell einer emergenten Integration des Gesamtorganismus stellt und das Leben eines Organismus aus der Wechselwirkung der Subsysteme begreift (S. 85f).
(2) Das empirische Argument, dass die These der Integration des Gesamtorganismus durch das Gehirn durch Shewmons Studien wiederlegt sei, weil sie zeigen, dass es autarke organische Integrationsleistungen auch bei hirntoten Patienten gibt (S. 86ff)

Im Blick auf die Frage, was daraus nun für den Zustand des Hirntodes zu folgern ist, kann man m.E. wiederum zwei unterschiedliche Positionen ausmachen, die in dem Papier unvermittelt nebeneinander stehen:

(B.1) Hirntote sind nicht tot, sondern in einem Zustand „minimaler Lebendigkeit“ (S. 102)
(B.2) Sie sie sind weder lebend noch tot (S. 101).

Das ist ersichtlicher Weise nicht dasselbe. Denn zu sagen, dass jemand im Zustand minimaler Lebendigkeit ist, heißt ihn oder sie als lebende Person zu bezeichnen. Sagt man aber, jemand der hirntot ist, sei weder lebend noch tot, dann ist er zumindest nicht mehr als lebende Person zu behandeln. Die Frage aber, ob man Position B1 oder B2 vertritt hat aber m.E. weitreichende Auswirkungen darauf, wie man mit der anderen strittigen Frage umgeht, nämlich der Frage, ob Organe nach wie vor nur von toten Spendern entnommen werden sollten.

Dazu mehr im nächsten Blogbeitrag.

Der Deutsche Ethikrat zu Organtransplantation und Hirntod, Teil I

Gelungener Umgang mit ethischer Ambivalenz

Der Deutsche Ethikrat hat nach langer und offensichtlich kontroverser Debatte eine umfassende Stellungnahme zum Thema „Hirntod und Entscheidung zur Organspende“ veröffentlicht. Dieser neue Text, den ich insgesamt als überaus lesenswert empfehlen kann, weicht erheblich von der Stellungnahme des Nationalen Ethikrates aus dem Jahr 2007 ab und ist schon allein deshalb einer ausführlichen Diskussion wert. Ich werde mich hier im Blog in mehreren Beiträgen mit diesem Text beschäftigen. In diesem Beitrag geht es mir zunächst um den Charakter dieser Stellungnahme, der durchaus ein besonderer ist.

Mit dem Thema Organtransplantation beschäftige ich mich schon einigen Jahren, zunächst aus einem v.a. akademischen Interesse heraus, aber in den letzten Jahren – seitdem ich als Theologischer Referent am Zentrum für Gesundheitsethik (ZfG) arbeite – auch mit einem großen Interesse an den ganz praktischen Fragen nach der Art und Weise wie über das Thema Organtransplantation informiert und aufgeklärt werden kann. Dabei ist es mir – insbesondere bei meinen Vorträgen zu diesem Thema – ein Anliegen, möglichst ergbnisoffen zu informieren. Das schließt für mich auch ein, kontroverse Themen in ihrer Ambivalenz (also Pro und Contra einer Entscheidung zur Organspende) zu thematisieren. Gerade in dieser Hinsicht finde ich die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates sehr gelungen und weiterführender als den m.E. sehr einseitigen Text des Nationalen Ethikrates aus dem Jahr 2007, der schon im Titel die klare Positionierung für die Bereitschaft zur Organspende formuliert („Die Zahl der Organspenden erhöhen“). Davon weicht der neue Text des Ethikrates deutlich ab.

Denn das Erste, was einem beim Blick in das Inhaltsverzeichnis auffällt, ist, dass diese Stellungnahme in ihrer Form von den meisten bisherigen Stellungnahmen sowohl des Nationalen als auch des Deutschen Ethikrates in einem Punkt abweicht. Bisher war es üblich, dass die Mehrheitsmeinung der Mitglieder des Ethikrates im Haupttext der Stellungnahme entfaltet wurde und abweichende Meinungen in Sondervoten am Schluss des Textes formuliert wurden. Davon wich bisher nur die Stellungnahme zur PID (März 2011) ab. Ähnlich wie in der PID-Stellungnahme, ist nun auch die neue Stellungnahme zur Organtransplantation in ihrem vierten Abschnitt durchgängig davon geprägt, dass zwei gegensätzliche Positionen dargestellt werden, die auch in eine kontroverse Diskussion miteinander eintreten. Gekennzeichnet werden sie als Position A (die Mehrheitsmeinung) und Position B (die Minderheitenmeinung). Welches Ethikratsmitglied welche Position vertritt wird dann am Ende der Zusammenfassung des Textes (auf S. 172) veröffentlicht. Ein Blick in diese Liste macht deutlich, dass auch auf Seiten der Minderheit ein paar gewichtige Vertreter das Wort erhoben haben (u.a. die Vorsitzende des Ethikrates und einer der stellvertretenden Vorsitzenden). Es werden in der Stellungnahme aber nicht nur die gegensätzlichen Positionen dargestellt, sondern auch die bei allen Differenzen gemeinsamen Grundlagen und Forderungen herausgearbeitet.

Manch einen stört so viel Offenheit im Umgang mit den ethischen Ambivalenzen. Bei Twitter las ich z.B. den Einwand, dass diese Stellungnahme nicht praxistauglich sei. Und die Befürchtung, dass ein offener Umgang mit ethischen Kontroversen, die Menschen mehr verunsichere und darum problematisch sei, ist mir auch schon vor der neuen Stellungnahme des Ethikrates begegnet. Ich halte allerdings das Gegenteil für richtig: Die meisten Menschen, die ich bei Vorträgen treffe, bedanken sich dafür, dass die ethischen Ambivalenzen und die kontroversen Punkte offen angesprochen werden – und zwar völlig unabhängig davon, ob sie sich selbst für oder gegen eine Organspende entscheiden.

Wer behauptet, dass man die Menschen nicht mit kontroversen ethischen Fragen verunsichern solle, weil sich dann noch weniger für eine Organspende entscheiden, hat offensichtlich entweder kein allzu großes Vertrauen in die Argumente für die Bereitschaft zur Organspende, oder aber er hat kein Vertrauen in die Entscheidungskompetenz der Menschen, die sich mit den Argumenten auseinandersetzen sollen. Ich denke hingegen – und das deckt sich mit meinem (zugegebener Maßen bloß subjektiven) Erleben in inzwischen doch sehr vielen Diskussionen – dass die Entscheidung zur Organspende in die eine oder andere Richtung auf jeden Fall solider und besser begründet ist, wenn vorher eine Auseinandersetzung mit den Argumenten für und gegen eine Bereitschaft zur Organspende stattgefunden hat. Einseitige Werbekampagnen pro Organspende werden dies sicher nicht leisten (zu dieser Position siehe den Kommentar von Dörries/Coors im Deutschen Ärzteblatt 2013). Völlig zu Recht verlangt auch das Transplantationsgesetz eine ergebnisoffene Information aller Bürgerinnen und Bürger. Das aber bedeutet, dass auch über kontroverse ethische Fragen informiert werden muss. Das wiederum setzt voraus, dass diese Fragen auch ethisch diskutiert werden. Jeder, der sich also fragt, was denn beim Thema Organspende überhaupt ethisch kontrovers sei, kann nun auf die neue Stellungnahme des Deutschen Ethikrates verwiesen werden.

Denn dort werden die strittigen Punkte in zwei gegensätzlichen Positionierungen angesprochen. Die Differenz betrifft im Wesentlichen die Frage des Todesverständnisses (und damit die Hirntoddefinition) und die Frage, ob die „dead-donor-rule“ – also die Regel, dass Organe nur von toten Spendern entnommen werden dürfen – aufgegeben werden sollte oder nicht. Zu diesen Differenzen mehr im nächsten Blogbeitrag.

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